Bundesverwaltungsgericht veröffentlicht Urteilsgründe zur „Vorkaufsrechtsentscheidung"

Das Bundesverwaltungsgericht hatte mit Urteil vom 09.11.2021 (Az. 4 C 1.20) die in Berlin weit verbreitete Praxis der Vorkaufsrechtsausübung für die überwiegende Anzahl der Anwendungsfälle für rechtswidrig erkannt. In der letzten BFW-Blogschrift haben wir bereits darüber berichtet. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht auch die Urteilsgründe veröffentlicht. Derweil durchleuchten Berliner Abgeordnete Vergangenheit und Zukunft des bezirklichen Vorkaufsrechts mit diversen schriftlichen Anfragen an den Senat.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts

In der Urteilsbegründung machten die obersten Verwaltungsrichter zunächst deutlich, dass der Gemeinde im Geltungsbereich eines sozialen Erhaltungsgebietes grundsätzlich ein Vorkaufsrecht zustehe. Dieses dürfe aber nur ausgeübt werden, wenn das Wohl der Allgemeinheit dies rechtfertige (§ 24 Abs. 3 S. 1 BauGB). Der Interpretationsspielraum dieses unbestimmten Rechtsbegriffes wird durch die in § 26 BauGB genannten Beispielfälle begrenzt. Der dortige Katalog konkretisiere Beispielsfälle, in denen das Allgemeinwohl die Ausübung des Vorkaufsrechts typischerweise nicht rechtfertige.

Ausschlaggebend im zu beurteilenden Fall war die Auslegung des Ausschlussgrundes nach § 26 Nr. 4 BauGB. Danach ist die Ausübung des Vorkaufsrechts ausgeschlossen, wenn – erstens – das Grundstück entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans oder den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Maßnahme bebaut ist und genutzt wird und – zweitens – eine auf ihm errichtete bauliche Anlage keine Missstände oder Mängel im Sinne des § 177 Abs. 2 und 3 Satz 1 BauGB aufweist.

In dem vorangegangenen Rechtsstreit hatten die Richter der Vorinstanz das bezirkliche Vorkaufsrecht mit dem Argument bejaht, es sei zu befürchten, dass der Käufer eine erhaltungswidrige Nutzung anstrebe, also beispielsweise durch Modernisierungen und entsprechende Mieterhöhungen angestammte Mieter verdränge. Eine solche zukünftige Nutzung wäre nicht mit den Zielen und Zwecken der Erhaltungssatzung vereinbar. Der Ausschlussgrund nach § 26 Nr. 4 BauGB würde demnach nicht greifen.

Das Bundesverwaltungsgericht ist diesem hypothetisch geprägten Argument nicht gefolgt. Vielmehr sei das Vorkaufsrecht ausgeschlossen, wenn das Grundstück gemäß den Vorgaben und Zielen des Milieuschutzes bebaut ist und genutzt wird. Für die Beurteilung, ob dies der Fall ist, komme es aber maßgeblich auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über die Ausübung des Vorkaufsrechts an. Mögliche zukünftige Entwicklungen seien dabei nicht von Bedeutung.

Zur Begründung stellten die obersten Verwaltungsrichter schlicht auf den Wortlaut des Gesetzes ab: „Das Gesetz bedient sich der Zeitform des Präsens ("bebaut ist und genutzt wird"), die zuvörderst einen gegenwärtigen Zustand umschreibt, nicht aber zukünftige Verhältnisse und Entwicklungen in den Blick nimmt. Daran ändert sich nichts dadurch, dass sowohl der Bebauung als auch der Nutzung ein Element der Dauer innewohnt; denn das Gesetz stellt ersichtlich gerade auf einen bestimmten Zeitpunkt in einem Kontinuum ab.“ Für ein abweichendes Wortverständnis und damit eine andere Auslegung des Gesetzes gebe im Übrigen auch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes nichts her.

Bedeutendes Urteil für Berlin und ganz Deutschland

Mit der eindeutigen Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht der „Friss-oder-Stirb-Praxis“ der Berliner Bezirke und anderer Städte mit Milieuschutzgebieten einen Riegel vorgeschoben: Vielfach konnten private Käufer und Investoren die Ausübung des Vorkaufsrechts nur verhindern, indem sie weitreichende Abwendungsvereinbarungen unterzeichneten.

Welche Druckmittel bleiben den Bezirken nach dem Urteil und in welchen Fällen kann das Vorkaufsrecht noch angewendet werden? Nach Einschätzung des Berliner Senats sei nach der Entscheidung davon auszugehen, dass es nur noch in sehr wenigen Fällen möglich sein wird, das Vorkaufsrecht auszuüben oder Abwendungsvereinbarungen mit den Käufern abzuschließen, so Staatssekretärin Wenke Christoph der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen auf eine schriftliche Anfrage des Linken-Abgeordneten Niklas Schenker. Man müsse erst anhand der Urteilsgründe prüfen, inwieweit für die Vorkaufsrechte in sozialen Erhaltungsgebieten ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleibe.

Rechtsanwalt Bernhard Burkert von der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft dazu: „Die schriftlichen Urteilsgründe des Bundesverwaltungsgerichts bestätigen das Ende der bisherigen Berliner Vorkaufspraxis. Nach dem Urteil verbleibt dem Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten nur noch ein sehr begrenzter Anwendungsbereich, etwa bei gravierenden baulichen Missständen, baulichen Änderungen oder Nutzungsänderungen von Gebäuden, die den Zielen und Zwecken des Milieuschutzes zuwiderlaufen. Mit dem weitgehenden Ausschluss des Vorkaufsrechts ist im Übrigen auch das `Druckmittel´ für den Abschluss von Abwendungsvereinbarungen entfallen. Auch in dieser Hinsicht lässt sich die bisherige Praxis des Landes Berlin deshalb nicht aufrechterhalten.“

Bilanz der Vorkaufsrechtsausübung in Berlin

Auch die FDP-Abgeordnete Sibylle Meister stellte eine schriftliche Anfrage und forderte eine Bilanz zur Ausübung des bezirklichen Vorkaufsrechts in Berlin. Aus der Antwort des Senats geht hervor, dass die Bezirke in insgesamt 96 Fällen das Vorkaufsrecht in sozialen Erhaltungsgebieten zogen und damit insgesamt 2.674 Wohnungen zu einem Gesamtpreis von rund 530 Millionen Euro erwarben. Von den 96 ausgeübten Vorkaufsfällen sind 14 noch nicht bestandskräftig und befinden sich im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren.

In 384 Fällen wurde das Vorkaufsrecht angedroht und führte in der Folge zum Abschluss einer Abwendungsvereinbarung. In 358 weiteren Fällen wurde das Vorkaufsrecht geprüft, führte aber weder zur Ausübung noch zu einer Abwendungsvereinbarung.

Die FDP-Abgeordnete Meister wollte auch wissen, welche finanziellen Mittel durch das Land Berlin insgesamt aufgewendet werden mussten, um die Ausübung des bezirklichen Vorkaufsrechts zu ermöglichen: Für 12 Fälle ausgeübter kommunaler Vorkaufsrechte hat das Land Berlin seit dem Jahr 2019 Darlehen in Höhe von insgesamt ca. 44,2 Millionen Euro im Rahmen der Genossenschaftsförderung bewilligt. In insgesamt 66 Fällen wurden den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Eigenkapitalzuführungen in Höhe von 181,9 Mio. Euro zugesagt. Das Vorgehen der Berliner Bezirke gerät damit auf Kosten der Steuerzahler zum Zuschussgeschäft.

Was geschieht mit bereits abgeschlossenen Abwendungsvereinbarungen?

Wie Käufer nun vorgehen sollten, die in der Vergangenheit zum Abschluss einer Abwendungsvereinbarung bewegt wurden, erläutert Bernhard Burkert: „Die geschlossenen Abwendungsvereinbarungen sind nach unserer Auffassung nichtig, weil sie gegen das sogenannte Koppelungsverbot verstoßen. Das Land Berlin durfte sich keine vertraglichen Gegenleistungen für die Nichtausübung von Vorkaufsrechten versprechen lassen, die es gar nicht hätte ausüben dürfen. Da die Frage der (Un-)Wirksamkeit der Abwendungsvereinbarungen noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ist den betroffenen Grundstückskäufern allerdings dringend anzuraten, dem jeweiligen Bezirksamt schriftlich mitzuteilen, dass sie sich nicht mehr an die Vereinbarungen gebunden sehen.“

Nach Bekanntwerden des Urteils hat der Berliner Senat noch im November beschlossen, eine Gesetzesinitiative in den Bundesrat einzubringen, mit der eine Änderung des Ausschlussgrundes nach § 26 Nr. 4 BauGB erreicht werden soll. Der Senat möchte das Gesetz dahingehend ändern, dass ein bezirkliches Vorkaufsrecht nur ausgeschlossen ist, wenn keine Anhaltspunkte für eine künftige Beeinträchtigung der mit der Erhaltungssatzung verfolgten Ziele vorliegen. Sollte das Land Berlin mit der Gesetzesinitiative auf Bundesebene erfolgt haben, könnten die Bezirke mit der bisherigen Vorkaufspraxis fortfahren.